Im Dialog mit einer starken Persönlichkeit
Zum Auftakt der Orgelfeierstunden zieht Professor Winfried Bönig mit einer Hommage an Max Reger wieder einmal alle Register
In 58 Jahren hat gewissermaßen schon die halbe Welt am Orgelspieltisch des Kölner Domes gesessen. Jedenfalls eine repräsentative Auswahl derer, die als Könner ihres Fachs gelten. Hochgerechnet müssen es demnach etwa mehrere hundert Interpreten aus allen Kontinenten gewesen sein, berücksichtigt man, dass in diesen knapp sechs Jahrzehnten seit Bestehen der Kölner Orgelfeierstunden zunächst zwar Domorganist Josef Zimmermann jedes dieser Konzerte – zumal als Initiator dieser Reihe – selbst bestritt, sein Nachfolger Clemens Ganz aber dann mit dieser Tradition brach und zusätzlich zum eigenen Spiel renommierte Kollegen von berühmten Kathedralen und Domen einlud.
Eine Idee, die von Anfang an viele Interessenten fand und seitdem in jedem Jahr während der zwölf Sommerwochen für internationales Flair in Kölns gotischem Prachtbau sorgt. Heute ist der Dom mehr denn je zu einem attraktiven Anziehungspunkt für die Liebhaber von Orgelmusik geworden. Jedenfalls wertet auch Winfried Bönig – seit 2001 Titular-Organist an der Hohen Domkirche – genau diesen Mixed aus eigenem Konzertieren und den Beiträgen internationaler Gäste als Garant für den Erfolg dieses auf die Ferienmonate hin angelegten Zyklus.
Fest steht, dass die Orgelfeierstunden, die in diesem Jahr am 14. Juni beginnen, zu den bestbesuchten Klassikkonzerten in Köln zählen und daher geradezu als Publikumsmagnet gelten. Und das nicht etwa, weil der Eintritt frei ist, sondern weil sich von einem immer wechselnden Programm, das mit Bedacht Doppelungen vermeidet, und Musik aus fünf Jahrhunderten Kenner oder wenigstens doch Orgelmusik-Begeisterte in großer Zahl ansprechen lassen. Immerhin kommt es vor, dass sich an einem Abend bis zu 3000 Zuhörer zu dieser weltweit bekannten Musikveranstaltung versammeln. „Wir haben ein über viele Jahre gewachsenes Publikum, das seine Lust an diesen Konzerten mitunter an die nachfolgende Generation weitergibt; ein großes Stammpublikum also – sogar aus den angrenzenden Beneluxländern“, analysiert Bönig, der bei der Programmgestaltung stets eine sorgfältige Auswahl trifft. Hier geht der Lehrstuhlinhaber für das Fach künstlerische Orgel und Improvisation an der Kölner Musikhochschule, wo er den Studiengang Katholische Kirchenmusik leitet, allein nach Qualität und entscheidet sich im Zweifel immer für die Verpflichtung bereits anerkannter Künstler mit eher außergewöhnlicher Expertise. Entweder kennt er diese persönlich oder aber er folgt einer besonderen Empfehlung. „Es gibt eine Szene, die sich untereinander kennt; überall trifft man Kollegen. Und Anfragen, im Dom gastieren zu dürfen, gibt es reichlich.“ Jährlich seien es um die 150, die bei ihm per Mail eingingen. „Das gibt mir die Möglichkeit, aus einer schier unerschöpflichen Quelle an Orgelspielern nur die Besten auszusuchen.“ Denn wer in die nähere Wahl komme, prüfe er genauestens. Dazu gehören oft die Kollegen aus anderen Bistümern, die Bönig nach und nach einlädt; sie bilden die eine Hälfte der jährlichen Musikerriege, die andere kommt aus dem Ausland. Doch für alle bedeutet die Teilnahme an den Kölner Orgelfeierstunden gleichermaßen eine besondere Ehre. „In Köln gespielt zu haben gilt in jedem Lebenslauf als Auszeichnung“, betont Bönig.
„Mittlerweile weiß das Publikum, dass es in Köln Organisten mit Spitzenniveau aus aller Welt antrifft, die das Instrument sehr unterschiedlich behandeln. Das aber macht ja gerade auch den Reiz aus. Letztlich geht es doch darum, mit der Orgel in einen Dialog zu treten. Man muss sich vorstellen, zu einer starken Persönlichkeit zu kommen. Wer hier Kommunikationsschwierigkeiten hat, kann kein schlüssiges Konzert geben.“ Selbst für ihn, so erläutert Bönig, sei es immer wieder spannend zu erleben, wenn Kollegen noch einmal ganz andere Register ziehen und sehr individuelle Klangfarben herauskitzeln. „Trumpft der eine mit Gassenhauern, wie den imposanten Werken von Widor oder Liszt, auf, mag es der andere dafür etwas stiller und spielt eher ein intimes Programm.“ Immer aber bringen die Musiker ihre eigenen Stücke mit, darunter auch so manche Uraufführung. Eine Vorab-Zensur von Bönig gibt es da nicht. Ganz im Gegenteil. „Manches Stück, zumal Zeitgenössisches, ist auch für mich noch eine Überraschung und durchaus inspirierend. Wichtig ist nur, dass die Literatur immer dem Ort adäquat ist. Denn viele Menschen suchen gerade in diesen geistlichen Abendkonzerten auch nach spiritueller Anregung, Meditation oder sogar einem Raum fürs Gebet.“ Gepackt werde am Ende dennoch jeder. „Das Schöne ist, dass die Leute die Kirche anders verlassen, als sie gekommen sind. Gerade an diesem Anspruch arbeiten wir alle in der Kölner Dommusik unentwegt“, unterstreicht der 57-Jährige. Das Kriterium sei allein, gute Musik zu machen. „Da muss ich ganz auf den Geschmack der Kollegen vertrauen. Man kann auch schon mal etwas Experimentelles wagen, aber dann so, dass es die Leute bewegt. Denn unser Publikum nimmt sehr sensibel wahr, wie ein Stück rezipiert wird.“
Auch wenn die Orgelfeierstunden ausschließlich der „Königin der Instrumente“ vorbehalten bleiben sollen – in diesem Jahr haben sich Domkapellmeister Eberhard Metternich und Professor Bönig, ähnlich wie im letzten Jahr mit der Uraufführung der Motette „Laetatus sum“ von Naji Hakim, wieder einen besonders feierlichen Auftakt für den Zyklus ausgedacht. Anlässlich des 100. Todestages von Max Reger singt das Vokalensemble Kölner Dom ergänzend zu den von Bönig gespielten Orgelwerken Bachs und Mendelssohns das „Requiem“ und die Choralkantate „Auferstanden, auferstanden“ des deutschen Orgelmusikspezialisten Reger und ehrt mit diesen wenig bekannten und selten aufgeführten Kompositionen einen ganz großen, wenngleich wenig populären Komponisten. Außerdem setze das Oratorium in der bewusst gewählten Orgelversion dem fanfarenartigen Introitus „Marsch der Priester“ von Mendelssohn mit seinen gewaltigen Klangmassen etwas entgegen, so Bönig. Denn den bei der Totenmesse im Original vorgesehenen üppigen Orchesterpart wird diesmal die Orgel übernehmen. „Solche Transkriptionen, wie sie auch schon mal um 1900 modern waren, sind heute durchaus üblich. Sogar Bach hat schon große Orchesterwerke für Orgel umgeschrieben, hier gibt es eine gewachsene Tradition“, erklärt der Domorganist. „Außerdem macht das unsere Klais-Orgel mit ihren mehr als 150 Registern sehr gut. Wenn es darum geht, das Orchester zu übernehmen, ist sie geradezu in ihrem Element.“
Kreativität zeigt der gebürtige Bamberger grundsätzlich aber nicht nur bei der Zusammensetzung der Interpreten, für die er allein verantwortlich zeichnet. Auch die erläuternden Begleittexte für das umfangreiche Programmheft schreibt der studierte Musikwissenschaftler und –pädagoge selbst und gibt so den kleinen Verstehenshilfen zu weniger geläufigen Werken seine eigene Handschrift. „Die Orgelfeierstunden sind in der ganzen Welt bekannt und, was ihre Besucherzahlen angeht, einmalig. Dieser Ruf lässt sich nur über stimmige Qualität definieren, die wir unseren Konzertbesuchern schuldig sind“, ist Bönig überzeugt. Er selbst – auch das gehört zu den Gepflogenheiten dieser Reihe – spielt daher an dreien der zwölf Abende selbst: am Anfang, in der Mitte und am Ende. Für die Erarbeitung des nicht ganz einfachen Reger-Programms gleich zu Beginn, das räumt der Musikprofi allerdings augenzwinkernd ein, schließt er sich nach der letzten Abendmesse auch schon mal bis morgens früh um drei Uhr im Dom ein: für eine musikalische Nachtschicht mit einem ungewöhnlichen Dialogpartner und – wie gesagt – einer starken Persönlichkeit.
Der 58. Zyklus der Orgelfeierstunden mit Domorganist Winfried Bönig beginnt am 14. Juni um 20 Uhr im Kölner Dom. Dabei sieht das Programm für Orgel den „Marsch der Priester“ aus Athalia von Mendelssohn-Bartholdy und die Triosonate c-Moll von Bach vor. Das Vokalensemble Kölner Dom unter der Leitung von Domkapellmeister Eberhard Metternich ergänzt die feierliche Eröffnung der Konzertreihe mit dem „Requiem“ von Max Reger nach dem Gedicht „Seele, vergiss sie nicht“ des Dramatikers Friedrich Hebbel und zum Schluss mit der Choralkantate „Auferstanden, auferstanden“, ebenfalls von Max Reger. Solistin ist Elvira Bill, Alt. Am 11. Mai hatte sich der 100. Todestag des Komponisten gejährt.
Beatrice Tomasetti