Domkantor Oliver Sperling wird 60 Jahre alt - „Musik und Glaube gehören für mich zusammen“


Am Sonntag feierte der Mädchenchor am Kölner Dom seinen 36. Geburtstag. Seit fast 30 Jahren wird er von Oliver Sperling geleitet. Sein eigener runder Geburtstag gibt ihm Anlass, auf eine gemeinsame Erfolgsgeschichte zurückzuschauen.

Herr Sperling, zunächst einmal meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrem 60. Geburtstag! In der Regel laden runde Geburtstage ja zu einer Art inneren Standortbestimmung und Bilanz ein: Wo stehe ich? Was ist gelungen, was nicht? Was beschäftigt Sie bei einem solchen Rückblick?

Oliver Sperling (Kölner Domkantor und Chorleiter des Mädchenchores am Kölner Dom): Vor allem bin ich sehr dankbar. Ich habe einen wunderbaren Beruf ergreifen können und mich damals entschieden, dass ich diesen hauptsächlich mit Chormusik und jungen Menschen fülle. Ich gehörte selbst 17 Jahre den Essener Domsingknaben an. Von daher hatte ich eine große chorische Erfahrung, die mich sehr geprägt und sehr viel Innensicht vermittelt hat, so dass ich auch Chorleiter werden wollte. In den letzten 34 Jahren bei der Kölner Dommusik habe ich ganz viele junge Menschen kennengelernt. Am Samstag hatten wir noch ein Ehemaligentreffen, am Sonntag einen Geburtstagsgottesdienst zum 36-jährigen Bestehen des Mädchenchores am Kölner Dom. Es bewegt mich sehr, bisher sehr viel mit meinem Chor erlebt und so viele Menschen begleitet zu haben. Manche von ihnen üben selbst inzwischen einen musikalischen Beruf aus, andere haben bis heute das Singen nicht aufgegeben, was zeigt, dass da eine Grundmelodie immer mitläuft. Die Sängerinnen der ersten Stunde haben jetzt ihre eigenen Kinder an der Domsingschule angemeldet, so dass sich hier sogar der Kreis wieder schließt.

Und wo ich stehe? Im Moment in einem Spannungsfeld zwischen dem Abschied des alten Domkapellmeisters und dem Beginn eines neuen. Das heißt nicht nur für mich, selbst inzwischen zu den Älteren zu gehören, sondern auch noch einmal eine neue Phase zu beginnen, in der man sich nicht mal eben auf Unabgesprochenes verlassen kann. Ich bin neugierig, wie es weitergeht, auch wenn die Arbeit mit dem Mädchenchor eine Konstante bleibt – was das Schöne an meiner Arbeit ist.

Gibt es etwas, was offen geblieben ist? Einen Traum, der sich bislang (noch) nicht erfüllt hat?

Sperling: Es gab wunderbare Highlights in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten: Chorwettbewerbe und Auszeichnungen, Reisen bis nach Südafrika und China, großartige Konzerte in tollen Konzertsälen und Kathedralen weltweit. Ein großer Wunsch wäre, noch einmal nach Rom zu reisen. Das ist einfach eine faszinierende Stadt, zudem natürlich das Zentrum der Christenheit, von daher bedeutet Rom immer „ad fontes“, zurück zum Ursprung. Die Sängerinnen sollen erleben, wie sich unsere Kirche in der römischen „Zentrale“ wahrnehmen lässt. Und dann ist immer interessant zu schauen, wie nehmen die Menschen dort unseren Gesang auf; einen Mädchenchor gibt es am Petersdom ja noch nicht, sondern vor allem die Tradition des Knabenchors mit der Cappella Sistina.

In diesem Kontext sind wir hier in Köln nach wie vor Pioniere, und da bin ich mit meiner Lobbyarbeit – was die Wahrnehmung der Mädchenstimmen angeht, ihre Gleichberechtigung und Stärkung – auch noch lange nicht am Ende. Zum Glück gab es Chancengleichheit in der Dommusik und in der Zusammenarbeit mit Eberhard Metternich von Anfang an, auch wenn manches zunächst erst wachsen musste. Aber dann konnten die Mädchen dieselben Erfahrungen machen wie die Knaben: im Gottesdienst, aber auch auf Reisen oder bei Festivals.

Und dann träume ich in der Tat auch noch einmal von einer Reise ins Heilige Land, weil auf den Spuren Jesu zu gehen dann doch nochmal etwas ganz anderes ist. Da gelangt man an die eigentlichen Wurzeln unseres Glaubens, geht die Wege nach, auf denen Jesus gegangen ist, und bekommt ein Gefühl für die Entfernungen von einer heiligen Stätte zur anderen, wie es in der Bibel beschrieben wird. Und wenn man das Erleben solcher Orte dann mit Gesang verbinden kann, dann wird einem umso bewusster, was wir da mit unserer Musik eigentlich verkündigen und wie wir die Botschaft Gottes klingend in die Welt bringen.

Ihr Studium der Katholischen Kirchenmusik haben Sie mit Auszeichnung abgeschlossen. Aber hätten Sie je gedacht, dass Sie eines Tages in der ersten Liga von Deutschlands Chorleitern mitspielen würden?

Sperling: Dass es 1991 Köln geworden ist, ist kein Zufall. Die ausgeschriebene Stelle einer Assistenz beim Kölner Domkapellmeister fiel mit dem Ende meines Studiums zusammen. Und sie hatte mit Chorleitung zu tun, was ja genau meinen Neigungen entsprach. Dass sich das dann aber so entwickeln würde, dass ich schließlich bei einem Mädchenchor lande, dafür sogar Experte und dann noch an einer solchen großen Kathedrale tätig sein würde, war allerdings nach meinem Examen überhaupt nicht absehbar. Bei dieser Assistenz habe ich dann den Rheinländer, speziell den Kölner, aus der Nähe kennenlernt und eines Tages selbst zwei kölsche Mädchen bekommen. Von daher eine rundherum tolle Bilanz!

Und dann der Kölner Dom! Ich liebe diesen Raum, ich liebe die Musik in diesem Raum – bei allen akustischen Schwierigkeiten – denn der Raum tut immer wieder das Übrige dazu: bei gottesdienstlichen Feiern, aber auch bei großen Konzerten von unterschiedlichen Standorten aus. Und dann ist der Dom mit der Zeit auch ein Stück Heimat geworden. Gerade die Arbeit am Dom weitet natürlich unglaublich den eigenen Horizont.

1994 erfolgte die Ernennung zum Domkantor. Zwei Jahre später übernahmen Sie vom damaligen Domkapellmeister Eberhard Metternich die Leitung des Mädchenchores am Kölner Dom. Im Nachhinein ein Glücksfall?

Sperling: Auf jeden Fall! Es hätte ja auch alles ganz anders kommen können. Aber die Einbindung hier in der Kölner Dommusik – das Spektrum, dass sich dann mit der Zeit auf vier Chöre geweitet hat und ein ganz eigenes Profil mit dem Mädchenchor zu entwickeln, aber auch mit allen gemeinsam zusammenzuarbeiten – zum Beispiel mit den Knaben in der Oper und Philharmonie – und Teil dieser enormen Vielfalt zu sein, der liturgischen, aber auch der konzertanten, und das in Kooperation mit großen Partnern – das alles ist ein großes Geschenk. Ich hätte sicher auch an der Oper arbeiten können oder mit einem Rundfunkchor, aber ich wollte halt Chorarbeit mit Kindern machen, und dass es dann ausgerechnet die Mädchen wurden, war und ist für mich wirklich ein totaler Glücksfall.

Und diese Arbeit ist ja auch nie fertig, weil jedes Mädchen anders ist und ich versuche, sie auch als Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit zu sehen und zu respektieren. Dabei bin ich hier – wie ich immer gerne sage – das einzige Y-Chromosom. Vielleicht hat mir aber auch ein bisschen geholfen, dass ich Vater von zwei Töchtern bin, die auch lange Zeit im Chor waren. Also, 150 Sängerinnen bilden ein sehr, sehr weites Spektrum, aber es geht immer auch um die einzelne Persönlichkeit. Denn jeder ist für das Gesamtgefüge wichtig, niemand geht unter.

Trotzdem bekomme ich als Chorleiter ja nur einen Ausschnitt mit, weil – und das ist großartig – das Gemeinschaftliche so stark dazu gehört, ich aber das Wachsen der Musikalität, aber auch das Wachsen der Religiosität manchmal nur aus der Distanz, aber dennoch sehr aufmerksam beobachte. Da jetzt zu sagen: hallo, mit diesem Prozess bin ich fertig – das zu beurteilen maße ich mir nicht an. Aber ich möchte immer Helfer dabei sein, dass jede Sängerin nach Möglichkeit ihre eigenen Entwicklungsschritte macht, um zu sich zu finden, aber auch die Musik und den Glauben als einen wichtigen Teil der eigenen Persönlichkeit zu entdecken.

Von 2007 bis 2015 waren Sie Mitglied im Präsidium des Deutschen Chorverbandes Pueri Cantores. Warum ist Ihnen das Engagement in einem solchen Verband so wichtig?

Sperling: Der Pueri Cantores-Dreiklang Lob, Begegnung Frieden liegt mir sehr am Herzen. Man kann das für seinen Chor natürlich auch alleine implementieren, aber in einer größeren Gemeinschaft wie hier im Diözesanverband Köln oder mit allen internationalen Verbänden über alle Kontinente hinweg den Horizont zu weiten, ist etwas ganz Wichtiges für junge Menschen, auch um zu erleben, wie die Welt woanders aussieht. Das bereichert ungemein – wie noch jetzt zuletzt in München Mitte Juli zu erleben war, als dort 4.500 Sängerinnen und Sänger von überall her zusammengekommen sind.

Geistliche Chormusik von Komponisten aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen bestimmt die Chorliteratur des Mädchenchores am Kölner Dom, insbesondere A-cappella-Chorwerke des 20. und 21. Jahrhunderts. Was macht ihren Reiz aus?

Sperling: Nach wie vor ist es nicht so, dass ich nur einfach die Schublade aufmachen muss und eine große Auswahl habe – wie bei gemischten Chören. Da muss ich erstmal nach Texten schauen, die uns in der Literatur fehlen und nach Passendem suchen. Und dann bietet diese jüngere Literatur immer auch eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musiksprache, die hochanspruchsvoll, aber auch sehr konventionell sein kann, die in Richtung neues geistliches Lied und Pop-Arrangement geht oder aber auch hoch kunstvoll und sehr schwer im A-cappella-Bereich sein kann. A cappella zu singen ist mir deshalb so wichtig, weil es die Königsdisziplin ist, das Musizieren in diesem engen Klangspektrum eines Mädchenchores die Ohren ganz weit werden lässt und das aufeinander Hören elementar ist, was die Kinder auf diese Weise, ohne die Ablenkung durch ein Instrument, am besten lernen. Aber natürlich singt der Chor auch die Romantiker gerne oder so etwas, was romantisch klingt. Entsprechend gehören Mendelssohn und Rheinberger zu unserem Grundrepertoire.

Gleichzeitig macht die zeitgenössische Musik unser Profil aus. Auftragskompositionen, die wir eine Zeit lang bis zu Corona regelmäßig vergeben konnten, sind auch deshalb interessant, weil bei Uraufführungen meist der Komponist – wie Rihards Dubra, Klaus Wallrath oder zuletzt Manuel Fischer-Dieskau beim Konzert in der Philharmonie – mit dabei ist und er uns zu seinem Stück etwas sagen kann, ohne dass sich der Chor allein auf meine Interpretation verlassen muss.

Die Skandinavier und Balten schreiben zum Beispiel viel für Mädchenchöre an Kathedralen, weil sie gezielt dieses Klangspektrum für sich entdeckt haben. Von daher ist die Literaturlage inzwischen eine ganz andere als noch Mitte der 90er Jahren, als ich den Chor aufgebaut habe. Mittlerweile gibt es eine spürbare Sensibilität für die Gattung Mädchenchor, daher für diese Stimmen auch passgenauere Kompositionen und damit mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Mädchenchöre sind heute wesentlich mehr im Fokus als noch vor 20 Jahren, auch wenn gerade bei geistlicher Literatur noch Luft nach oben ist. Auch Festivals, wie es sie hier mit Musica Sacra für gemischte Chöre gibt, wären für Mädchenchöre im high level noch sehr, sehr wünschenswert. Trotzdem zahlt sich inzwischen die Lobbyarbeit Schritt für Schritt aus. Hinzu kommt, dass Mädchenchöre heute untereinander immer besser vernetzt sind, so dass sie von diesem Networking in jedem Fall profitieren.

Für diese Emanzipation von den viel etablierteren und älteren Knabenchören haben Sie immer gekämpft und mit viel Engagement in den letzten drei Jahrzehnten aus Ihren Sängerinnen ein Ensemble auf Spitzenniveau geformt. Der Kölner Mädchenchor zählte bei seiner Gründung 1989 zu den ersten Mädchen-Kathedralchören überhaupt und hat in den 36 Jahren seines Bestehens zahlreiche Preise gewonnen. Wo sehen Sie sich heute? Ist Ihr 60. Geburtstag auch so etwas wie ein Erntetag?

Sperling: Da geht es mir weniger um mich. Ich freue mich immer, wenn meine Sängerinnen etwas ernten können. Das ist für mich das Schönste, wenn ich sehe, wie die sich über etwas freuen, oder ich merke, dass ihnen etwas zu Herzen geht, wenn sie über etwas nachdenken, wenn Sie vielleicht mit einer Frage kommen oder ihnen plötzlich etwas aufscheint. Das sind dann die vielen kleinen Erträge jeden Tag und weniger ein Blick in die große Scheune, in die nach einem großen Sommer die Ernte eingefahren wird und man sich danach ausruhen kann, weil das Soll erfüllt ist. Im Alltag einfach zu sehen, wie junge Menschen wachsen und für sich aus dem großen Angebot des gemeinschaftlichen Musizierens das Beste herausfinden – das ist eine der schönsten Seiten meines Berufs.

Als kleine persönliche Ernte verzeichne ich allenfalls ein Ehemaligen-Ensemble bezeichnenderweise mit dem Namen Onzemble Coeln, weil es aus elf Stimmen besteht. Da merkt man, hier wollten Sängerinnen auch nach ihrem altersbedingten Ausscheiden aus dem Mädchenchor unbedingt weiter singen. Bis heute macht das Ensemble ganz tolle Programme und agiert ziemlich selbständig. Das macht mich dann schon stolz.

Sie selbst hatten ja auch immer einen hohen Anspruch bezüglich einer bestimmten Klangvorstellung…

Sperling: Was wirklich qualitativ gut und kulturell anspruchsvoll ist, erfordert natürlich Mühe, Einsatz und Disziplin, aber auch Leidenschaft und Lust. Dann aber geht Musik tief ins Herz, und dann stellt sich auch diese Freude über ein unglaublich schönes Ergebnis ein, was das tiefste Wesen eines Menschen anrühren kann. Musik und Glaube gehören für mich einfach untrennbar zusammen.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti für DOMRADIO.DE