Mädchenchor am Kölner Dom wirkt bei War-Requiem mit - Eine Totenmesse als Mahnung


Wie paradox. Es trägt den Namen Kriegsrequiem und mahnt eigentlich doch zum Frieden. 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Sängerinnen am Dom an einem bewegenden Projekt beteiligt, an Benjamin Brittens berühmtestem Werk.

Wieder herrscht Krieg in Europa. Und so kann das Konzert, das die Kölner Philharmonie an diesem Sonntag auf seine Agenda gesetzt hat, nicht nur als eine musikalische Verbeugung vor den vielen Toten der beiden vergangenen Weltkriege gelten, sondern auch als eindringlicher Appell an die Mächtigen dieser Welt, den grausamen und ungerechten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine endlich zu beenden – wie aber eigentlichen jeden Krieg, der gerade auf dem Erdball tobt und für beispielloses Leid sorgt.

Doch in den historischen Kontext hinein, der in diesen Tagen rund um den 8. Mai von der immer wieder kehrenden Mahnung eines "Nie wieder" begleitet wird, hatte Benjamin Britten einst sein 1962 im englischen Coventry uraufgeführtes War-Requiem geschrieben. 80 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges soll es sich nun in den Reigen vieler offizieller Gedenkfeiern einreihen und einmal mehr an die Befreiung von Nazi-Deutschland und damit an einen verheerenden Teil deutscher Geschichte erinnern. Mit dabei sind 23 Sängerinnen des Mädchenchores am Kölner Dom.

Gedacht war die Komposition dieses Requiems ursprünglich als Anti-Kriegsbekenntnis eines überzeugten Pazifisten, als der sich Benjamin Britten verstand, und als sein Beitrag zu einem Musikfestival besonderer Art. Das fand nämlich anlässlich des Wiederaufbaus der 1940 in Coventry von der deutschen Luftwaffe zerbombten St. Michael’s Kathedrale statt und hatte im Vorfeld um britische Kompositionen zur Wiedereinweihung des neu errichteten Gotteshauses geworben. Dessen Geschichte ist dramatisch: Am 14. November 1940 heulten gegen 19 Uhr die Sirenen in Coventry, und fünf Minuten später waren etwa 400 deutsche Flugzeuge über der Stadt. Sie warfen fast 900 Brandbomben auf das Zentrum ab. Eine Stunde später stand die gesamte Innenstadt in Flammen.

Mit dem "War-Requiem" schuf Britten, der der Aufforderung einer Beteilung an dem ausgeschriebenen Wettbewerb gerne nachkam, schließlich ein monumentales Chorwerk, in dem er lateinische Texte aus der "Missa pro Defunctis" und englische Gedichte des 1918 gefallenen jungen Dichters Wilfred Owen miteinander verknüpfte und eine unmissverständliche Botschaft der Trauer, der (An)Klage und des Erbarmens formulierte. "Die Auseinandersetzung mit dem War-Requiem ist etwas ganz Besonderes", betont Chorleiter Oliver Sperling, der das Sängerinnenensemble des Domes auf diesen Einsatz vorbereitet hat, "da es zu den eindringlichsten Vertonungen gegen den Krieg überhaupt und zu den wichtigsten Musikstücken des 20. Jahrhunderts zählt. Mit seiner rhythmischen und harmonischen Kraft und seinen Klangfarben ist es außerdem ein Britten par exellence", findet der Dommusiker. Dabei gebe dem Werk der original als "Boys-Choire" konzipierte Kinderchor, den diesmal die Mädchen stellen, eine besonders berührende Note.

War-Requiem ist eigentlich ein Friedensoratorium

Man hört dieses Requiem, das eigentlich genauso den Titel "Friedensoratorium" tragen könnte, nicht oft – wenn aber, dann immer in einem großen Konzertsaal, weil es nicht viele geeignete Kirchenräume gibt, die die Größe der Chöre und die drei von Britten vorgegebenen Klanggruppen fassen: großer Chor mit großem Orchester und Sopran-Solo, Kammerorchester mit den Tenor- und Bass-Solisten, die je einen deutschen und einen englischen Soldaten symbolisieren, und schließlich ein Kinderchor mit Orgelbegleitung. Und so gehört es auch zur konsequenten Umsetzung der Dramaturgie dieses Oratoriums, dass die Sängerinnen des Mädchenchores als eine dieser drei Klangebenen auch räumlich entrückt sein werden. Denn – kaum sichtbar – singen sie auf einem der obersten Balkone in der Philharmonie und weit entfernt vom eigentlichen Geschehen auf der Bühne. Dabei wird es keineswegs eine leichte Aufgabe werden, sich über diese räumliche Distanz hinweg in das große Ganze einzufügen oder zwischendurch auch solistisch den Part der unschuldig mahnenden Kinderstimmen zu übernehmen, die sich – so Brittens Vorgabe – bewusst und manchmal Engelsgesang gleich aus der Ferne melden.

Realistisches Bild der Grauenhaftigkeit des Krieges

Eine monumentale Anzahl von Sängerinnen und Sängern – ein Zusammenschluss des KölnChors, des Rheinischen Kammerchors Köln und der Lewisham Choral Society aus London – tritt bei dieser sinfonischen Totenmesse gemeinsam mit der Philharmonie Südwestfalen sowie den Solisten Agnes Lipka, Sopran, Markus Franke, Tenor, und Thomas Laske, Bass, auf. Unter der Leitung von Wolfgang Siegenbrink deutet dieser gewaltige Klangkörper eindrucksvoll die vielen Facetten der von Britten beabsichtigten Klangkombinationen auf der Grundlage lateinischer und englischer Texte aus und erzeugt im Zusammenspiel eine ganz eigene Spannung und kompositorische Dichte. Denn hier liegt die außergewöhnliche Faszination des Werkes: in der Umsetzung der Sprache in Töne. Einerseits entwirft Britten ein realistisches Bild von der Grauenhaftigkeit des Krieges, wenn beispielsweise militärische Trompetensignale, Gewehrsalven oder Granateinschläge die Totenklage stören. Gleichzeitig aber lässt er auch der Trauer, dem Entsetzen, der Reue und der Hoffnung auf Erlösung im himmlischen Jerusalem mit seinem finalen "Requiescant in pace" genug Raum zur bedrückend-feierlichen Entfaltung.

Wilfred Owen verarbeitet Kriegstraumata zu Poesie

Außerdem vermischt er auf eher ungewöhnliche Weise auch sprachlich zwei Welten miteinander: die lateinische Liturgie als Ausdruck der religiösen Dimension und die Poesie eines jungen Soldaten, der seine in den Schützengräben von Flandern erlittenen Traumata in Gedichten verarbeitet. Denn Owen war Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, erlitt aber einen schweren Schock bei einem Geschützangriff und schrieb daraufhin eine literarisch ergreifende Lyrik über seine Kriegseindrücke. Nach seiner Genesung kehrte er an die Front zurück, wo er wenige Tage vor Kriegsende fiel. "Mein Thema ist der Krieg und das Leid, das der Krieg bringt. Die Poesie liegt im Leid. Ein Dichter kann heute nur eins tun: warnen." Diese Erklärung Owens setzt Benjamin Britten mehr als ein halbes Jahrhundert später auf das Titelblatt seines "War-Requiems". Bis heute ist es mahnendes Vermächtnis geblieben.

"Dieses Werk artikuliert in ganz besonderer Weise die Katastrophen des 20. Jahrhunderts: zwei Kriege und unermessliches Elend. Es erschüttert, rüttelt auf, es ruft zur Versöhnung und es mahnt", erklärt Domkantor Sperling. "Dies musikalisch umzusetzen bleibt ein besonderer Auftrag, der in diesen Zeiten nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat." Eigentlich müsste angesichts der aktuell geführten Kriege alle Welt aufstehen, sich zur Wehr setzen. Schließlich sei jeder Einzelne an seinem Platz dazu aufgerufen, jeden Tag etwas für den Frieden zu tun.

Sperling selbst hat erstmals beim War-Requiem zum 50. Jahrestag des Weltkriegsende im Pariser Invalidendom und in der Kölner Philharmonie mitgewirkt – eine Kooperation, die seinerzeit über Radio France zustande kam. "Seit dieser Zeit bin ich von dem Werk fasziniert", gesteht er. Der Schrei "Domine Jesu Christe" zu Beginn des Offertoriums sei wie ein Weckruf und das Solo "I am the enemy you killed, my friend" eine der bewegendsten Passagen der gesamten Komposition.

Seit über 20 Jahren gehört das War-Requiem zum Repertoire der Chöre am Dom. In dieser Zeit hat es Domkapellmeister Eberhard Metternich gleich zweimal dirigiert: beim Chorfestival "Pueri cantores" 2004 im Kölner Dom und vier Jahre später als ökumenisches Projekt in der anglikanischen Kathedrale in Liverpool, Kölns englischer Partnerstadt. Zuletzt stand es dann 2014 auf dem Programm, als Metternich es auf Anfrage des Philharmonischen Chors mit einer dritten Knabengeneration einstudiert hat. "Ein Stimmenpart, der zweifelsohne anspruchsvoll ist", findet Sperling, "aber sowohl für Knaben- als auch Mädchenstimmen zu einem eindrücklichen musikalischen Erlebnis im Chorleben wird."

Quelle: DR